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Mythos & selbsterfüllende Prophezeiung: „Leider bin ich nicht so ein Naturtalent wie du!“

Gibt es Naturtalente und müssen sie wirklich nichts für ihre Erfolge tun?

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Wenn jemand „aus dem Nichts heraus“ erfolgreich wird, herausragende Fähigkeiten zeigt oder ohne Ausbildung / Studium autodidaktisch berufliche Fähigkeiten bis hin zu einer Selbstständigkeit entwickelt, glauben viele Menschen an einen Glücksfall, ein Wunder – das MUSS ein Naturtalent sein!

Ehrfürchtig wird das musikalische, literarische, künstlerische, unternehmerische oder sportliche Werk bewundert, aber kaum jemand kommt auf die Idee daran zu glauben, er könne dasselbe schaffen. Unmöglich, dass man sowas lernen kann. Es muss sich um ein naturgegebenes Talent handeln. Manche haben Glück und bekommen es in die Wiege gelegt, andere eben nicht.

Erst kürzlich hatte ich ein Gespräch, in dem es um eine berufliche Neuorientierung ging. Meine Gesprächspartnerin sagte: „Am liebsten würde ich so leben und arbeiten wie du. Genau das machen, was ICH will. Aber ich kann leider nix außer das, was ich gelernt habe. Ich bin halt nicht so ein Naturtalent wie du. Traurig, aber wahr.“

Dass einige davon ausgehen, dass meine Arbeit keine „richtige Arbeit“ ist und etwas, für das ich potentiell nichts tun muss, bin ich mittlerweile gewohnt. Gerade zu Beginn wurde über meine Arbeit häufig der Kopf geschüttelt, weil man es nicht verstand. Als ich damals, neben meinem Abitur, anfing nicht nur mit meinen Blogs etwas Geld zu verdienen, sondern, gemeinsam mit Marius, im Keller meiner Eltern die „Samtpfotenbox“ als Überraschungsbox für Katzen an hunderte Haushalte verkaufte und verschickte – das nahm niemand ernst.

Keiner aus meinem Umfeld hätte jemals ernsthaft damit gerechnet, dass ich mal Bücher schreibe, meine eigenen Produkte verkaufe, geschweige denn überhaupt erfolgreiche Unternehmerin bin.

Heilige Scheiße, die Sandra von damals? Niemals!

Daniel Coyle spricht in seinem Buch „The Talent Code*“ vom „The Holy Shit Effect“. Im Wesentlichen entwickelte er diesen Begriff daraus, wie „unerwartet“ das Auftreten bestimmter Talente war (z.B. die gehäufte Anzahl großartiger Fußballspieler:innen in Brasilien oder besonders talentierter Tennisspieler:innen in Russland). Er nahm Kontakt zu diesen vermeintlichen „Ausnahmetalenten“ auf und fragte sie unter anderem, wann sie bemerkt haben, dass sie talentiert sind. Sie hatten darauf keine Antwort.

Es war das jahrelange, intensive Üben und Trainieren, das allmählich zur Steigerung der Kompetenz und des Talents geführt hatte, bis sie so einmalig gut in ihrem jeweiligen Bereich waren.

Außenstehende sehen nur die Spitze dieses Eisberges, nämlich das vermeintliche Ausnahmetalent. In meinem Fall kennen sie möglicherweise noch die „alte Sandra“, die dreimal sitzengeblieben ist, ein Messie war, ihr Abitur abgebrochen hat, ständig besoffen war, eine Ausbildung als Zahnarzthelferin machte, nur um dann nochmal das Abi nachzuholen, ohne jemals zu studieren. „Heilige Scheiße, die Sandra von damals?! Das hätte ich niemals gedacht!“

Mythos Naturtalent

Sicherlich kommen Menschen mit individuellen „Grundanlagen“ zur Welt und haben unterschiedliche Grundvoraussetzungen, gerade wenn es z.B. um das Thema Bildung geht. Das sprichwörtliche Naturtalent ist aus meiner Sicht allerdings ein Mythos.

Jeder Mensch besitzt ein kreatives Grundtalent und die meisten Menschen auch die Möglichkeit, alles zu lernen, was sie möchten. Das bedeutet aber eben auch: alles was man können will, muss man lernen (auch wenn manche mehr lernen müssen, als andere).

Der Text, den ich via Google gefunden habe spricht Bände in Bezug darauf, was Menschen häufig von vermeintlichen Naturtalenten glauben: „Die müssen nichts für ihren Erfolg tun“

Vermeintliche „Naturtalente“ gelten als erfolgreicher und man geht davon aus, dass sie für ihren Erfolg nichts tun mussten – das ist aber völliger Quatsch! Natürlich haben wir unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale, von denen einige angeboren, andere anerzogen sind. Diese Merkmale sorgen dafür, dass wir unterschiedliche Vorlieben, Werte, Normen und Bedürfnisse entwickeln.

Nur weil ich gerne lese und schreibe, bin ich aber noch lange keine gute Schreiberin, geschweige denn gute Autorin. Ganz im Gegenteil!

Talent ist keine angeborene Superkraft, sondern ein Mix aus persönlichen Interessen und dem Willen stetig zu lernen und besser zu werden.

Die Aussage „Ich muss nicht lernen“, die man von vermeintlichen „Naturtalenten“ manchmal hört (z.B. in der Schule oder im Beruf), resultiert viel mehr aus der Tatsache, dass sie ihr Talent von klein auf entwickelten, gefühlt dadurch „nebenbei“ lernten.

So ist es auch bei mir. Im Rückblick habe ich nicht mehr das Gefühl, mich groß dafür angestrengt zu haben. Fakt ist aber, dass ich über 20 Jahre gelernt habe, bis ich mich überhaupt getraut habe, irgendwas davon als meinen Beruf anzusehen. Seit 1998 ist nahezu kein Tag vergangen, an dem ich das Internet nicht nutze, um zu lernen, wie ich (insbesondere digitale) Texte schreibe, wie ich Grafiken, Videos & Fotos erstelle & mit der Adobe Suite bearbeite, wie ich Homepages erstelle und entsprechende Inhalte für Suchmaschinen optimiere. Ich lese jeden Monat mehrere Fachbücher und Artikel, nehme an Workshops teil, zeichne und schreibe, um meine Fähigkeiten zu trainieren.

Auch der Gesang ist mir nicht in die Wiege gelegt worden. Ich habe über 10 Jahre mindestens 1 x pro Woche mit meinem Opa geübt, Gesangsunterricht und Klavierunterricht genommen, Bücher gelesen, Videos gesehen, Auftritte gehabt, Fehler analysiert und versucht besser zu werden.

Meine Vergangenheit & die Lehren

Ich bin gelernte zahnmedizinische Fachangestellte, mein Abi-Abbruch-Zeugnis hatte 2004 einen Notendurchschnitt von 4,5 und meine Lehrer:innen redeten mir stetig ein, ich würde es niemals zu irgendwas bringen, weil ich zu faul und zu dumm sei. Das habe ich Jahre lang geglaubt und gefühlt. Selbst meine Großeltern befeuerten genau dieses Bild, in dem sie immer wieder betonten, wie faul („Aber doch wohl nicht so dumm?!“) ich bin und dass ich sicherlich bald wieder miese Noten schreibe.

Ich habe mich so dumm gefühlt, dass ich mich nicht mal an Unterhaltungen oder Diskussionen innerhalb meiner Familie beteiligen wollte, weil ich der festen Überzeugung war, dass ich nichts dazu sagen kann. Als ich mich damals nach einem Job umsah, ignorierte ich meine Sehnsucht, etwas Kreatives zu machen völlig. Ich hielt es für schier unmöglich, etwas tun zu können, das meinen Talenten & Interessen entspricht.

Stattdessen landete ich in verschiedenen Bereichen, die eine absolute Qual für mich waren. Für jeweils nur wenige Tage arbeitete ich als Flyer verteilende „Weihnachtsfrau“ für eine Versicherung, hockte im dunklen Keller einer Insektenvernichtungsfirma auf dem Boden und kratzte die Überreste toter Tiere aus den Fallen, versuchte in einer Eisdiele bei der Ausgabe des (falschen) Rückgelds nicht vor Angst & Scham zu heulen und schwatzte vorwiegend älteren Herrschaften, für ein bekanntes Wuppertaler Unternehmen, welches die eigenen Produkte fast ausschließlich im Direktvertrieb anbietet, unter massivem Verkaufsdruck der Geschäftsleitung, eine „Küchenberatung“ auf.

Letzten Endes fand ich dann über „Vitamin B“ einen Ausbildungsplatz in einer Zahnarztpraxis. Ich fühlte mich von den Ausbildungsinhalten völlig unterfordert, schrieb deshalb glücklicherweise fast nur 1en. Leider brachte das nicht die so heiß ersehnte Anerkennung meiner Familie. Im Gegenteil sagten meine Großeltern häufig „Naja, mal abwarten.“ oder „Hast du heimlich abgeschrieben?“ wenn ich ihnen von den guten Noten berichtete.

Bis vor Kurzem war ich felsenfest davon überzeugt, eine Hochstaplerin zu sein und all das, was ich kann, nicht WIRKLICH zu können, sondern einfach nur Glück gehabt zu haben. Sowieso ist von „Erfolg“ zu sprechen, ja wohl völlig übertrieben (siehe Hochstapler-Syndrom).

Bis heute kämpfe ich mit meinem Selbstwert und bemerke, wie ich meine Erfolge im Rückblick erstmal als „glücklichen Zufall“ betrachte und die unfassbare Arbeit, die ich rein stecke, gar nicht sehen kann. Und manchmal fällt es mir schwer, zu meinem Beruf zu stehen.

Eine Rolle spielt dabei sicherlich auch, dass ich oft höre, dass das ja keine „richtige Arbeit“ ist oder ich ein „Naturtalent“ bin. Außerdem hatten meine Eltern früher Angst um mich, weil ich meine Zeit insgesamt lieber mit dem Computer verbrachte, als mit Freunden. Sie sahen den Computer eher als Bedrohung und nicht, wie ich, als Chance.

Heute weiß meine Mama, dass der Computer für mich ein Segen war (und IST) und nichts kaputt gemacht hat. Aber ein Teil in mir hat noch immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich den ganzen Tag am PC in meiner Arbeit versinke und nichts „Normales“ mache.

Jedenfalls habe ich aus meinem Hobby nach über 20 Jahren meine Selbstständigkeit kreiert und alles zuvor, auf „klassischem Wege“, Erlernte an den Nagel gehängt. Hätte ich an das „Naturtalent“-Konzept geglaubt, würde ich wohl immer noch beim Zahnarzt hängen.

Ob du denkst, du kannst es, oder ob du denkst, du kannst es nicht, du wirst in beiden Fällen recht behalten

Henry Ford

Die selbsterfüllende Prophezeiung

Mit „Leider bin ich kein Naturtalent wie du“ diskreditiert man nicht nur sein Gegenüber, das für die (oft kreativen) Leistungen hart arbeitet, sondern man sabotiert auch sich selbst. Der hat schließlich nichts dafür getan, so gut zu sein! Aber man selbst ist so arm dran, dass man mangels Naturtalent niemals so gut sein kann.

Ein immerwährender Glaubenssatz, mit dem man sich selbst belügt. Irgendwie ist diese Denkweise auch eine verzweifelte und leicht gesagte Ausrede dafür, warum man etwas nicht schaffen, lernen oder verändern kann. Solche Menschen werden sich nicht nennenswert weiterentwickeln und keine großen Veränderung für ihr Leben bewirken. Quasi eine selbsterfüllende Prophezeiung. Am mangelnden Talent liegt es aber nicht.


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