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Aus dem Leben

Wie es war, als du gingst

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Wie ist es, wenn ein Mensch stirbt? Wie ist es, wenn man einen Mensch beim Sterben begleitet? Wie fühlt es sich für bzw. als Angehörige an? Wann ist es soweit? Wie erkenne ich das „Todesdreieck“ oder das „Todesrasseln“? Sind diese Dinge überhaupt immer da und muss ich das eigentlich alles wissen? 

 Das erste Mal „so nah“ mit dem Tod. Das erste Mal in meinem Leben einen toten Mensch sehen. Kann ich das aushalten? Werde ich die Bilder im Kopf los? Wie schlimm wird es? Ich wusste zwar wir es ist, wenn der eigene Vater plötzlich stirbt, aber ich hatte noch nie einen Menschen bei seinen letzten Atemzügen begleitet geschweige denn einen toten Menschen gesehen. Davor hatte ich bisher zu große Angst. Jetzt aber war es so weit.

Wie es für mich war, einen Menschen beim Sterben zu begleiten, teile ich hier mit dir. In der Hoffnung, dir mit meinen Erfahrungen und Gedanken etwas mitgeben zu können. 💜


Wie es war, als du gingst

14.04.21, 11:31 Uhr:
Man weiß nichts über den Tod. Er gehört zum Leben, ist so alltäglich und dennoch ignorieren wir ihn konsequent. Seit Jahren lese ich Bücher und doch sitze ich jetzt hier und habe keinen blassen Schimmer, was mich bzw. uns heute erwartet und wie das abläuft. So wie das Personal uns behandelt, scheint die Lage von Marius Mama (finde eigentlich nur ich das Wort „Schwiegermutter“ total hart und lieblos?) aber ernst zu sein. Sie sind noch liebevoller als sonst. Irgendwie besonders sanft, bringen uns Kaffee, Orangensaft und Kekse und schauen hin und wieder vorbei, ob wir was brauchen.

14.04.21, 11:34 Uhr:
Manchmal atmet sie eine lange Zeit nicht. Ich meine, davon hätte ich mal was gelesen. Dass sie längere Atempausen haben, wenn sie sterben und dann einmal tief Luft holen und es ist vorbei. Ich warte jede Atempause erschrocken ab. Atmet sie noch? Aber sie sieht gefühlt noch zu „frisch“ aus, um zu sterben. 

14.04.21, 11:46 Uhr:
Ich muss an den Kommentar bei Instagram denken. „Wir sind alle nicht alleine und sind es mit unseren Sorgen oft doch.“. Das ist gerade ganz besonders wahr. Manche Dinge, können wir einander nicht abnehmen. Zum Beispiel, Menschen lernen loszulassen und mit diesem Schmerz umzugehen. Gerade schmerzt mich am aller meisten, nichts für Marius tun zu können, außer hier zu sein.

14.04.21, 12:16 Uhr:
Kann man sich darauf vorbereiten, was einen erwartet, wenn jemand im Sterben liegt? Wie sieht z.B. dieses verdammte ‚Todesdreieck‘ aus, von dem immer die Rede ist? Niemand zeigt einem das. Sieht es so aus, wie das was ich da gerade sehe? Ich hätte es mir irgendwie klarer vorgestellt. Und das Todesrasseln? Wie hört sich das an? Hätte die Pflegerin es gerade bemerkt und was dazu gesagt, wenn es so wäre? Sagt man da überhaupt was, wenn es für einen selbst vielleicht alltäglich und offensichtlich ist? Kann nicht mal jemand kommen und irgendwie was sagen, damit wir wissen, woran wir sind?

14.04.21, 12:39 Uhr:
Ach Sandra, man weiß es einfach, wenn es soweit ist. Du weißt es. So als hättest du es schon erlebt. Man muss gar nichts lesen oder erleben. Man spürt es, wenn man hin fühlt. 

14.04.21, 13:03 Uhr:
Sterben Menschen ähnlich wie Tiere? Ich glaube, ich fände das beruhigend, weil ich dann vielleicht ein bisschen mehr weiß, was noch kommt. 

14.04.21, 13:12 Uhr:
Ich habe kaum noch Angst. Es ist so eine Selbstverständlichkeit hier zu sein. Ihr die letzte Ehre zu erweisen. Aber was, wenn sie das gar nicht will? Will sie alleine sein? Wie kann man das jetzt noch herausfinden? Will man alleine sterben? Mein erster Gedanken ist: JA, ICH WÜRDE DAS WOLLEN. Aber das „wollen“ dahinter ist eher die Angst davor, jemand anderem zur Last zu fallen, während man stirbt. Andere wegen mir leiden zu sehen. Das ist grausig. Aber alleine sterben, ich glaube das ist noch grausiger.

14.04.21, 13:58 Uhr:
Es erinnert mich irgendwie an eine Geburt. Nur eine dieser Art, bei der man weiß, dass es kein gutes Ende nehmen wird. Andererseits ist das Ende für sie wünschenswert. Sie hat es verdient, nach über elf Jahren Gefangenschaft im eigenen Körper, wieder frei zu sein.

14.04.21, 14:25 Uhr:
Eine seltsame Situation. Wir sitzen hier, halten zu dritt Händchen, reden irgendwas Belangloses, während einer von uns stirbt. Ich glaube, wir haben beide Angst, dass doch noch was Schlimmeres passiert. Etwas, das wir nicht ertragen können. Kann ich das, was ich in der Theorie gelesen habe, in der Realität tragen?

14.04.21, 15:00 Uhr:
Ihr Zustand hat sich in kürzester Zeit sehr verändert. Ihr Gesicht sieht so seltsam aus. Ihre Augen fallen langsam ein und bewegen sich mittlerweile gar nicht mehr. Sie atmet schwer, mit offenem Mund, hastig-langsam. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es bald geschafft hat und bin doch auch unsicher. Was, wenn das nicht das Ende ist und es schlimmer wird?

14.04.21, 15:36 Uhr:
In dem Moment, als ich sage: „Ich glaube es ist gut und richtig, dass wir bleiben.“, sieht sie aus, als würde sie gähnen. Sie holt tief Luft, ihre Zunge sackt ein Stück im Mund nach hinten. Dann ist es ganz lang still. Zu lange. Zu still. Ich werde nervös, schaue auf meine Uhr. Wenn sie gestorben ist, weiß ich wenigstens die genaue Uhrzeit, huscht mir durch den Kopf. Ist es seltsam, genau jetzt auf die Uhr zu schauen? 15:36 Uhr. Atmet sie noch? War es das jetzt? Ich halte den Atem an. Horche. Beobachte den Brustkorb, die Nasenflügel, Marius Reaktion. Kommt da noch was? Kann ein Mensch so friedlich sterben? Eine gefühlte Ewigkeit später frage ich in den hohlen Raum hinein: „Ist sie jetzt etwa gestorben?“, obwohl ich die Antwort eigentlich doch schon kenne.


Der Tag danach

15.04.21, 11:00 Uhr:
Wir sitzen in ihrem Zimmer, umringt von Pflegepersonal, während sie tot im Bett liegt. Das ist also mein erstes Mal, einen toten Menschen sehen. Ich habe es mir furchtbar vorgestellt, aber jetzt ist es irgendwie doch okay. Sie sieht so friedlich aus, mit ihrem Kuscheltier in der Hand.

Es findet ein Abschiedsritual statt. Kurzfristig hatte ich die Hoffnung, dass dieses Ritual nicht christlich geprägt wäre. Meine Hoffnung zerschlägt sich in der Sekunde, als man uns das Heft reicht, auf dem u.a. das „Vaterunser“ abgedruckt ist. Ohje.

Auf dem Ghettoblaster wird Klavier-Klimper-Musik angemacht und alle schweigen. Ob wohl jemand erwartet, dass wir jetzt anfangen zu weinen? Mir wird schlecht. Hier direkt neben meiner toten Schwiegermutter zu sitzen, umringt (mir ging umzingelt durch den Kopf) von Fremden, die das „Vaterunser“ beten, das ist schon ziemlich unangenehm. Ich überlege kurz, ob ich aufstehe und raus gehe. Traue mich aber nicht. Auch, weil es den Pfleger*innen viel bedeutet. Einige von ihnen waren die letzten Tage schon den Tränen nahe. Das möchte ich nicht kaputt machen. Zumal ich es wirklich berührend und schön finde, wie sie sich kümmern und Anteil nehmen.

Mein Blick wandert immer wieder zu Marius. Ich sehe, wie ihm die Situation missfällt. Die Rednerin eröffnet den Raum für diejenigen, die etwas über Marius Mama erzählen wollen. Ich schaue auf den Boden, wie damals in der Schule, wenn ich Schiss hatte dran genommen zu werden. Sie ergreift zum Glück das Wort und berichtet, dass Marius Mama bei ihrer Ankunft im Heim vor neun Jahren nicht mehr reden konnte, aber immer viel gelächelt habe. Besonders bei der Aromatherapie und dem Snoezelen.

Sie reißt mich aus meinen Gedanken, indem sie mich direkt anspricht. War ja klar. „Und, welche Erinnerungen haben sie?“ Ich will gar nichts sagen. Stattdessen erzähle ich aber, dass ich sie genauso kennen gelernt habe und bin gleich danach unzufrieden, weil es Marius Mama gar nicht gerecht wird und auch gar nicht stimmt. Dann wird Marius angesprochen. Er sagt das, was ich mich nicht getraut habe: „Eigentlich möchte ich gar nicht so viel sagen.“  

Langsam scheinen sie zu bemerken, wie unwohl wir uns in dieser Situation fühlen. Die anderen beten das Vaterunser. Ich frage mich, wie Marius Mutter das alles hier wohl empfinden würde, bin mir aber ziemlich sicher, dass sie es furchtar finden würde. Ich finde die Situation ungewollt komisch. Weil wir mal wieder in eine gesellschaftlich völlig normale Situation geschliddert sind, die für uns eine solche Qual ist, aber für Millionen andere tief bewegend und enorm wichtig. Tatsächlich muss ich mir das Schmunzeln verkneifen. 

„So, jetzt ist unsere kleine Abschiedsfeier zu Ende. Wer mag, darf sich noch verabschieden, alle anderen verlassen bitte den Raum.“. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Die Sekunden die verstreichen, ohne das jemand was macht, fühlen sich für mich wie Stunden an. Irgendwann ergreift Marius zum Glück die Initiative, nickt mir zu und wir gehen raus. Puh. 

15.04.21, 11:20 Uhr:
Die „Rednerin“ fragt uns, ob wir nochmal ins Zimmer möchten. Ich sage „Eigentlich wollten wir das Zimmer jetzt noch eben ausräumen, wenn das ok ist?“. Ihr Blick lässt sich nicht so ganz für mich deuten, aber ich glaube, sie findet es unangebracht. Ich höre wie Marius zu einem Pfleger sagt „Wir haben uns gestern schon verabschiedet. Wir waren ja bis zum Schluss dabei. Das war gut für uns.“. Ob er auch ein wenig Bedenken hat, dass man uns für herz- und pietätlos hält und es deshalb erwähnt? 

15.04.21, 11:30 Uhr:
Wir können das Zimmer ausräumen. Das tut gut. Erst finde ich es seltsam, dass da Marius tote Mutter auf dem Bett liegt, während wir ihre Schränke ausräumen, aber dann ist es irgendwie „schön“. So als würden wir diesen Moment, wie sonst auch immer, mit ihr teilen. 


Für Ulrike

Als wir uns 2010 das erste Mal kennen lernten, konntest du bereits kaum noch reden. Das war bei deinem Umzug vom Krankenhaus ins Heim. Ich war ziemlich unsicher, was zu tun oder zu sagen ist und konnte auch gar nicht einschätzen, wie ich mit dir umgehen soll. Entsprechend verloren stand ich im „Krankenzimmer“ etwas abseits, während die anderen deine Sachen packten.

Während wir das Zimmer verlassen wollten, kamst du von der Seite, legtest mir deine Hand auf die Schulter und sagtest „Hm?! Und du? Was ist mit dir?“. Du hast meine Unsicherheit genau gespürt und mich in dieser Sekunde „abgeholt“. Eine so warme, liebevolle Geste, die mich bis heute zu Tränen rührt. In meiner Erinnerung ist das der längste Satz, den ich dich jemals sprechen hören habe. 

Es gab viele schöne Momente dieser Art. Eine meiner liebsten Erinnerungen ist der Moment, als ich deine Lieblings CD von QUEEN auflegte. Wenige Sekunden später fingst du an, die Melodie zu summen und zu Lächeln. Wir sind aufgestanden, haben ein bisschen mit dir getanzt und gesummt.

Ich hätte dich unwahrscheinlich gerne früher kennen gelernt, so wie du warst, bevor dich diese Krankheit angefangen hat einzuschränken. Ich hätte gerne deine Art zu reden und zu gestikulieren mit erlebt und mich gefreut, mit dir gemeinsam Keramik-Schmuck herstellen zu dürfen.

Auch wenn die letzten elf Jahre mit dir nicht selten geprägt von Sorgen und großer Belastung waren, so habe ich die Zeit mit dir genossen und viel von dir gelernt. Manchmal sogar mehr, als von einem Menschen, mit dem ich auf normalem Wege hätte kommunizieren können. Du hast mir gezeigt, dass Menschen auch dann alles von ihrer Umwelt wahrnehmen und mitbekommen, wenn vermeintliche „Expert*innen“ das Gegenteil behaupten, dass es keine Worte braucht, um zu kommunizieren und irgendwie auch, dass ich keine (so große) Angst vor dem Tod und der Konfrontation mit selbigem haben muss.

Miterleben zu dürfen, wie du, entgegen meiner schlimmsten Phantasien, letzten Endes tatsächlich „friedlich eingeschlafen“ bist, dafür bin ich unwahrscheinlich dankbar. Auch weil ich genau weiß, wie rar diese Form des Abschieds ist und welches große „Geschenk“ uns hier zuteilwurde. 

Ich werde dich vermissen. Nicht deine Krankheit und viele der Qualen, aber deine Liebe für Caramac und Eis, die Art wie du deinen Kopf angehoben und neugierig geschaut hast, dein Lachen wenn Marius mich geärgert oder Witze gemacht hat, deine Art über Laute mit uns zu kommunizieren, dein „über den Gang tippeln“, deinen Geruch, dass du uns immer ganz genau zugehört hast und ich mich in deiner Gegenwart nie Unwohl gefühlt habe, deine klare Körpersprache und dass ich immer genau erkennen konnte, wen und was du magst bzw. vor allem auch nicht magst 😅


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